Exkursion nach Straßburg: das Europäische Parlament 2024

Schnappschuss des Fotoautomats des Europäischen Parlaments © European Parliament

Anlässlich der Europa-Wahl 2024 reisten Studierende des MA European Studies an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), vom 14. bis zum 17. Juli 2024 nach Straßburg, zu den konstituierenden Plenarsitzungen des neu gewählten Europäischen Parlaments. In Gesprächen mit Abgeordneten und deren Assistent*innen sowie mit einem Referenten des Naturschutzbundes (NABU) fanden sie heraus, wie diese ihre Arbeit und klimapolitische Vorhaben nach der Wahl einschätzen und wie die Konflikte um die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur nachwirken. Die Exkursion schloss an das Projektseminar ‚Welches Europa wählen wir? Die Europa-Wahl und die grüne Zukunft der EU‘ von Dr. Amelie Kutter an, das im Sommersemester 2024 die Wahlen zum Europäischen Parlament, Wahlkampagnen, den European Green Deal und die Aushandlung von EU-Gesetzgebung zu Klima- und Biodiversitätsschutz untersuchte. Hier teilen die Exkursionsteilnehmenden ihre Einblicke.

Den Bericht zusammengetragen haben Nina Grabowski und Elena Müller; Beiträge kamen außerdem von Anouck Crespin-Jouan, Antonia Grau, Clara Irmscher, Kathleen Lang, Viktoria Mesecke, Lucas Spelter und Marie Zimmermann. Die (Web-)Redaktion machte Amelie Kutter. Zur Organisation der Exkursion haben beigetragen: Amelie Kutter, Mady Wolff und Lena Koperek vom MA European Studies sowie die Teilnehmenden Akseli Athiainen, Clara Irmscher und Lucas Spelter. Die Studierenden haben die Treffen selbst moderiert und die Spaziergänge organisiert. Die Kontakte zu den MdEPs bzw. ihren Büros, die letztlich ein Treffen ermöglichten, haben Marie Glißmann (SPD-Kandidatin für Brandenburg) sowie Sahra Damus (MdL der Grünen für Frankfurt (Oder) im Landtag Brandenburg) und ihr Assistent Federico Masson vermittelt. Allen für das Mittun großen Dank!

14. Juli 2024 – Anreise zum European Youth Center, französischer Nationalfeiertag

Aufenthaltsraum des European Youth Center in Strasbourg © Amelie Kutter

Am Sonntag reisten die Exkursionsteilnehmenden an und bezogen Quartier im European Youth Center. Es liegt im europäischen Viertel in unmittelbarer Nähe des Europäischen Parlaments und wurde 1972 vom Europarat zusammen mit dem Europäischen Jugendwerk als Bildungs- und Begegnungszentrum eingerichtet. Mitte Juli war der mehrstöckige Aufenthaltsraum ziemlich verwaist (s. Foto). Die Angereisten schlossen sich zu einem Besuch des Jazz-Festivals La Pétite France zusammen und sahen sich das Feuerwerk anlässlich des französischen Nationalfeiertags an. So startete die Exkursion mit einem schönen und außergewöhnlichen Abendevent.

 

15. Juli 2024 – Besichtigung des europäischen Viertels und des Europäischen Parlaments, Treffen mit MdEP Jutta Paulus (Bündnis90/die Grünen) und Stephan Piskol (NABU)

Am Vormittag des 15. Juli stand die Besichtigung des Straßburger Gebäudes des Europäischen Parlaments mit seiner gewollt ‚unfertigen‘ Architektur, dem Plenarsaal und mehreren Ausstellungen an. Die Studierenden informierten sich über den digitalen Guide des Parlaments, der die Funktionen der Räume erörterte und das Europäische Parlament vor allem als demokratische Errungenschaft präsentierte.

Im Innenhof des Straßburger Gebäudes des Europäischen Parlaments © Amelie Kutter

Nach einem Spaziergang durch das europäische Viertel, den eine Gruppe von Teilnehmenden kommentierte, vorbei am Europarat und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, trafen wir uns mit der MdEP Jutta Paulus und ihrer Assistentin Léonie Bühler (Bündnis 90/die Grünen) im Parc de l’Orangerie. Frau Paulus berichtete vom Einstieg in die neue Legislaturperiode: Büros würden gesucht und verteilt und vor allem die Fraktionen in mehreren Meetings konstituiert. Die Ansprüche auf Positionen und Ausschussverantwortungen würden nun angemeldet – sie sei wieder Mitglied im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und Stellvertreterin in den Ausschüssen für Industrie, Forschung und Energie und für Verkehr und Tourismus. Die Aushandlungen der Zuständigkeiten seien sehr diskussionsreich.

Im weiteren Gespräch fragten die Studierenden nach Erfahrungen mit der EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur. Frau Paulus schilderte eindrücklich die Besonderheiten in diesem Fall. Erst in der letzten Sitzung des zuständigen Ausschusses habe es starken Gegenwind der EVP-Fraktion gegeben – sodass der zuvor gemeinsam überarbeitete Änderungsantrag mit 44 gegen 44 Stimmen abgelehnt wurde. Die Ablehnung der EVP kam aus der Initiative des Bauernverbands und wurde begleitet von einer Hetzkampagne auf Social Media, die unter anderem Falschinformationen über Renaturierung verbreitete. Im weiteren Verlauf des Gesetzesgebungsverfahrens wurde im Rat der EU ein Kompromissentwurf erarbeitet. Dann begannen Trilog-Verhandlungen zwischen dem EP, dem Rat der EU und der Kommission, in denen ebenfalls ungewöhnlicherweise weitere Änderungen am Entwurf vorgenommen wurden. Nachdem das EP den nun vorliegenden Entwurf am 27. Februar 2024 zugestimmt hatte, zogen überraschend in der folgenden Ratssitzung einige Mitglieder ihre Zustimmung zurück. Es wurde zunächst nicht abgestimmt. Nur auf ein letztes Umschwenken Österreichs hin wurde die Verordnung schlussendlich am 17. Juni 2024 angenommen.

Treffen mit MdEP Jutta Paulis (Bündnis 90/die Grünen) im Parc de l’Orangerie © Mady Wolff

Frau Paulus sagte zum weiteren Verlauf und zur Umsetzung des Gesetzes, dass die Mitgliedsstaaten nun Pläne für die Renaturierung erarbeiten müssten. Die Verantwortung der Europa-Parlamentarier*innen liege nun darin, entsprechende Mittel im nächsten EU-Haushaltsentwurf zu verankern. Dies würde sich nicht allzu leicht gestalten, da die Grünen-Fraktion und andere progressive Kräfte im Parlament ja nun noch weniger vertreten seien. Das Gespräch vermittelte den Studierenden einen Insider-Blick auf dieses außergewöhnliche Gesetzgebungsverfahren und gab einige Einblicke in die komplexen Arbeitsabläufe von Europa-Parlamentarier*innen.

Unser digitales Treffen mit Stephan Piskol, dem Referenten für Renaturierung des Naturschutzbundes Deutschland (NABU), eröffnete die Perspektive von NGOs auf EU-Gesetzgebung. Es ergänzte die Einblicke, die wir während einer öffentlichen Kampagnen-Veranstaltung von deutschen und polnischen NGOs und MdEPs in Frankfurt (Oder) im Vorfeld der Europa-Wahl gewonnen hatten, die in einem von Akseli Athiainen verfassten Bericht dokumentiert sind. Nach einer kurzen Vorstellung seiner Person und einer Beschreibung seiner Tätigkeiten beim NABU ging Stephan Piskol direkt zur von der EU verabschiedete Verordung zur Wiederherstellung der Natur über (auch ‚Renaturierungsgesetz‘ genannt).

Piskol hob die Bedeutung einer guten Zusammenarbeit mit den verschiedenen Fraktionen im Europäischen Parlament hervor. Sie habe dabei geholfen, wichtige Ziele des NABU in die Aushandlung des Renaturierungsgesetzes einzubringen. Er erläuterte die Herausforderungen, denen sowohl Verbände und Lobbyisten als auch die europäischen Institutionen in der nächsten Legislaturperiode angesichts erstarkter Gegner von Klima- und Naturschutzpolitik gegenüberstehen. Ein Vorgeschmack darauf war die polemische Social-Media-Kampagne der EVP gegen die Verordnung, eine unerwartete Entwicklung, die auch den NABU überrascht hat.

Flammkuchen satt. Dank an das Personal des Restaurants für das Foto

Der Tag klang bei einem Essen in einem Restaurant mit elsässischer Küche aus. Es gab leckeren Flammkuchen, Salat und Wein. Sehr zu empfehlen (außer für Veganer*innen).

16. Juli 2024 – Treffen mit Johann Vohn (Büro MdEP Katarina Barley), Wahl der Parlamentspräsidentin, Stadtbesichtigung zu Wasser und zu Land

Der zweite Exkursionstag begann mit einem Termin im Europäischen Parlament mit einem Mitarbeiter aus dem Büro der MdEP Katarina Barley. Katarina Barley ist SPD-Politikerin, nach Ausführung verschiedener Ämter in der Bundespolitik, darunter dem der Justizministerin, ist sie seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments. Am 16. Juli trat sie erneut als stellvertretende Präsidentin des Parlaments an und wurde in diesem Amt am Nachmittag bestätigt. Außerdem war sie als Spitzenkandidatin der SPD im Europawahlkampf das Gesicht der Kampagne. Die Studierenden hatten sie sowie die SPD-Kandidatin für Brandenburg, Marie Glißmann, bereits im Vorfeld der Wahlen gesprochen, wie in dem Bericht von Seminarteilnehmer Théo Douessin dokumentiert.

Unser Gesprächspartner war Johann Vohn, Pressesprecher von Katarina Barley. Er hat sich viel Zeit genommen, um unsere Fragen zur Arbeit im Europaparlament, den Arbeitsalltag im Abgeordnetenbüro und zu Veränderungen im Parlament in der neuen Legislaturperiode zu beantworten.

Treffen mit Johann Vohn, Pressesprecher der MdEP Katarina Barley (SPD) © Clara Irmscher

Bei der Beschreibung seiner persönlichen Arbeit wurde deutlich, dass dieser Job sehr spannend und abwechslungsreich ist, es sich aber auch nicht um einen klassischen „9 to 5 Job“ handelt. Uns hat auch interessiert, wie er das Wahlergebnis der Europawahl bewertet und welche Veränderung er prognostiziert. Wie vermutet bedauerte er das Erstarken der Rechten in Europa. Es sei zu beobachten, dass sich nicht nur die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, sondern auch der Ton verändere und dieser immer rauer werde.

Die abschließende Frage aus unserer Gruppe an Johann Vohn, nämlich wie man sich am besten auf Stellen in Büros von Europaabgeordneten bewirbt, macht deutlich, dass für viele von uns sein Job sehr interessant und reizvoll klang. Seine Empfehlung: neben den akademischen Qualifikationen auch Arbeitserfahrungen in internationalen Organisationen sammeln und sich auch bewerben, wann man sich vielleicht nicht so große Chancen ausmalt.

Nach dem Gespräch wurden wir von Katarina Barleys Presssprecher direkt auf die Besuchertribüne des Parlaments geführt und durften die ersten Minuten der konstituierenden Sitzung des Europäischen Parlaments live miterleben.

Sitzordnung im Straßburger Plenarsaal am 16. Juli 2024, s. auch die aktualisierte interaktive Fassung

Zuvor entnahmen wir der Sitzordnung, die an die Besuchenden verteilt wurde, wer während der  kommenden fünf Jahre bei Plenarsitzungen wo platziert ist. Die Fraktionen sind gemäß des Links-Rechts-Schemas parlamentarischer Sitzordnung sortiert: die Fraktion European Left, darunter Mitglieder der deutschen Parteien ‚die Linke‘ und ‚Tierschutzpartei‘; die Fraktion Progressive Alliance of Socialists and Democrats (S&D) mit Mitgliedern der deutschen Partei SPD, die Fraktion European Greens-EFA mit Mitgliedern der deutschen Parteien ‚Bündnis 90/die Grünen‘ und ‚Volt‘; die Fraktion Renew mit Mitgliedern der deutschen Parteien FDP und Freie Wähler; die Fraktion der European Peoples Party (EPP/EVP) mit Mitgliedern der deutschen Partein CDU und CSU, der Familienpartei und der ökologisch-demokratischen Partei; die Fraktion European Conservatives and Reformists (ECR/EKR) und die Fraktion Patriots for Europe (PfE), die sich einige Wochen zuvor um die ungarische Fidesz-Partei gegründet hatte, sowie die wenige Tage zuvor konstituierte Fraktion Europe of Sovereign Nations (ESN), in der die deutsche Partei AfD die meisten Mitglieder hat.

Die Fraktionslosen (NI) sitzen hinter den Fraktionen, darunter Mitglieder der deutschen Parteien ‚Bündnis Sarah Wagenknecht‘ (BSW), ‚die Partei‘ und ‚Partei des Fortschritts‘. Am 16. Juli waren die Beobachtungssitze des Rats der EU und der Europäischen Kommission links und rechts des Präsidiums nur spärlich besetzt – schließlich ging es nicht um Gesetzgebung, sondern um die Konstituierung des Europäischen Parlaments für die 10. Legislatur 2024-2029.

Blick von der Besuchertribüne in das ‚Hemicycle‘ des Europäischen Parlaments © Amelie Kutter

In der ersten Plenarsitzung des neugewählten Parlaments, der wir beiwohnen konnten, fand die Wahl der Präsidentin des Europäischen Parlaments statt. Die amtierende Präsidentin Roberta Metsola von der Europäischen Volkspartei (EVP) aus Malta trat erneut an, um eine weitere Amtszeit zu sichern. Gegen sie kandidierte spontan die ehemalige spanische Ministerin für Gleichberechtigung und erstmalige Europaabgeordnete Irene Montero von der Europäischen Vereinten Linken/Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL).

In ihrer Rede präsentierte sich Roberta Metsola als amtstragende Präsidentin sehr souverän und selbstsicher. Ihre Inhalte blieben allerdings eher unkonkret und fast etwas generisch, was als Ausdruck ihrer derzeitigen Rolle und ihres Bestrebens, die Stabilität und Kontinuität der Institution zu bewahren, verstanden werden kann. Metsola betonte die Erfolge des Parlaments in den letzten Jahren und sprach über die Notwendigkeit, den von ihr eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. Ihre Worte zielten darauf ab, ein Gefühl der Beständigkeit und des Vertrauens in ihre Führung zu vermitteln.

Irene Montero, die erst seit 2024 Mitglied des Europäischen Parlaments ist, hatte ihre Kandidatur sehr kurzfristig angekündigt. Bis zum Mittag des 15. Juli war ihre Kandidatur medial noch unbekannt. Montero, die von 2016 bis 2023 Parlamentsabgeordnete für Madrid war und von Januar 2020 bis November 2023 als Gleichstellungsbeauftragte im zweiten Kabinett von Ministerpräsident Pedro Sanchez diente, hielt eine pointierte, emotionale und angriffslustige Rede, in der sie dezidiert mehr Rechte für Minderheiten und Frauen forderte. Sie drängte auf Veränderungen und kritisierte den Status quo. Ihre Ausführungen waren leidenschaftlich und zielten darauf ab, ein Gefühl der Dringlichkeit und Notwendigkeit für Reformen zu vermitteln.

Die Wahl fand als geheime Wahl mit Stimmzetteln statt. Die Abgeordneten warteten die Belehrung nicht ab und scharten sich lange vor den Urnen. Das Ergebnis erfuhren wir erst, nachdem wir den Plenarsaal verlassen hatten: Roberta Metsola erhielt 562 von 720 Stimmen und wurde somit im ersten Wahlgang für weitere 2,5 Jahre als Präsidentin wiedergewählt. Irene Montero erhielt lediglich 60 Stimmen. Da die Linksgruppe allerdings nur 48 Sitze im EU-Parlament hat, lässt sich ableiten, dass Montero auch über ihre Fraktion hinaus Zustimmung generieren konnte. Das Ergebnis war erwartbar und verdeutlicht die starke Unterstützung für Metsola in einem Parlament, in dem im Vergleich zur vorherigen Legislatur konservative Kräfte stärker vertreten sind.

Stadtspaziergänge zu Land, © Amelie Kutter, und zu Wasser, © Clara Irmscher

Nach der Mittagspause teilte sich die Exkursionsgruppe in zwei Teams: Während ein Teil der Gruppe durch Straßburgs Innenstadt spazierte, machte die andere eine Paddeltour um die Grande Île, auf der sich die Altstadt befindet. Beide Gruppen erkundeten so auch die Natur in der Stadt: Die einen vom Wasser aus (Reiher, Libellen und viele andere Tiere wurden gesichtet), die anderen im botanischen Garten der Universität. Wir ließen die Exkursion mit einem gemeinsamen Abendessen im Stadtzentrum ausklingen.